Interview I
Du kannst dein Herz nicht öffnen, du kannst nur aufhören, es zu verschließen.
Die Berliner spirituelle Lehrerin Mariananda, eine Schülerin der amerikanischen Satsang-Lehrerin Gangaji, betont immer wieder die eigene Verantwortung beim Prozess des Aufwachens: Das Einzige, was zu tun ist, ist aufzuhören, den Gedanken zu folgen.
Das Sein ist immer da, wir verdunkeln es nur mit unserem auf Hochtouren rotierenden Verstand.
Von Jörg Engelsing
Sein: Wie komme ich aus dem Krampf heraus, das Leben kontrollieren zu müssen?
M: Du hast die Möglichkeit, diesem Krampf, also deinen Gedanken, Gefühlen und Wahrnehmungen zu glauben. Oder du kannst es lassen. Aber noch scheinst du deine Gedanken zu lieben – zumindest so sehr, dass du ihnen noch folgst. Also “glaubst“ du auch noch, dass du das Leben kontrollieren könntest oder müsstest.
Sein: Stimmt. Es ist wie eine Sucht.
M: Super, ganz klasse. Es ist eine Sucht. Und was machen wir, wenn wir wissen, dass wir süchtig sind?
Sein: Eine Entsüchtigungskur.
M: Das nennen wir Entzug. Und das ist das, was die meisten Leute nicht tun. Du hast es kapiert. Wunderbar. Du beobachtest bereits: „Oh, wo ist mein Stoff?“ Dein Stoff heißt: Denk, denk, denk.
Sein: Und ich halte mich daran fest, weil es mir Sicherheit gibt.
M: Richtig. Aber nur eine scheinbare Sicherheit.
Und in dem Moment, in dem du deinen Griff etwas lockerst, kriegst du Angst. Das nennen wir den Beginn von Entzug. Ich habe 15 Jahre mit Drogenabhängigen gearbeitet, das ist genau dieselbe Nummer. Alle Argumente, die dir zur Verfügung stehen, werden nun mobilisiert: Ohne Denken kann man sein tägliches Leben nicht bestreiten, wer weiß, wo das hinführt, schließlich muss man seine Miete zahlen usw. Wenn du dir dessen schon einmal bewusst bist, dass du Angst vor Entzug hast – und es geht ja um bewusst werden, um sich seiner bewusst werden, dass du Bewusstsein bist …
Sein: Mir ist das ja alles klar, aber es nützt nichts.
M: Doch. Was du nicht machen willst, ist dieser Entzug, und das musst du aktiv machen. Was hilft, ist, die Natur der Gedanken zu verstehen. Bist du schon mal so weit gekommen, dass du den Beginn eines Begriffes gesehen hast, wenn du nach innen guckst?
Sein: Nein.
M: Gut, dann mach das jetzt. Geh einfach dorthin, wo ein Gedanke entsteht. Kannst du ihn finden? Du suchst jetzt verzweifelt den Beginn eines Wortes, da, wo es entsteht. Gelingt dir das, kannst du den Anfang finden?
Sein: Er kommt einfach … aus dem Nichts.
M: So ist es. Da kommt er her. Und er verschwindet auch wieder ins Nichts. Du hast jetzt das Nichts wahrgenommen. Und das bist du.
Sein: Ich kann es aber nicht greifen.
M: Musst Du ja auch nicht. Das wäre die Sucht.
Sein: Stimmt. Es übt eine unglaubliche Faszination aus, diesen Gedanken zu greifen.
M: Weißt Du warum?
Sein: Nein.
M: Weil die Gedanken dir scheinbar Macht verleihen. Sie ermöglichen dir, ein Haus zu bauen, scheinbar die Welt zu verstehen und und und. Worum es beim Entzug geht, ist einfach Stop zu sagen. Aber du traust dem Frieden nicht.
Sein: Es erscheint so einfach …
M: Und genau das sagt der mind. Der meint lapidar: Du hast sie doch nicht mehr alle, das kann es doch nicht sein. Gangaji hat dazu einmal gesagt: „Das ist Blasphemie.“ Denn wenn du es wirklich erlebst, DIR – DESSEN – BEWUSST – WIRST, schwöre ich dir: Du sitzt heulend da.
Dir laufen die Tränen herunter, du bist voller Ehrfurcht, voller Dankbarkeit, ganz ergriffen, dann kannst du so einen Satz nicht mehr sagen. Nie mehr. Das kann nur das Ego. Stell dir doch einfach einmal nur ganz primitiv vor: Dieses Nichts, worüber das Ego hämisch lacht, hat die gesamte Existenz hervorgebracht. Jetzt kommt dein Ego dazu und sagt: „Das ist mir zu einfach.“ Das ist aber überhaupt nicht einfach, weil heilig nicht einfach ist, einfach schon, aber nicht im Sinne von „simpel, profan“. Ich war immer ein naturverbundener Mensch, aber ich hätte nie gedacht, dass es mir durch die zunehmende Tiefe dieses Seins-Zustandes, dieser Bewusstheit mittlerweile bei jedem Frühling die Tränen in die Augen treibt.
Sein: Diese Tiefe ist es, der ich immer hinterherlaufe.
M: Du brauchst nicht hinterherzulaufen, weil sie bereits jetzt hier IST. Du nimmst das nur nicht wahr, weil Du das, was IST, unter anderem verdeckst mit dem Gedanken: Das ist mir zu einfach.
Sein: Ich habe dieses Anhalten der Gedanken immer wieder mal geübt ….
M: Ja, immer wieder mal. Wachsamkeit sei dein ewiges Gebet. Als man den indischen spirituellen Lehrer Papaji fragte: Bist du noch wachsam, sagte er: bis zu meinem letzten Atemzug. Wenn du nicht bereit bist, jeden Gedanken abzuschneiden … Das ist die einzige Entscheidung, die du in deinem Leben treffen darfst. Bei Dir sehe ich, dass noch eine gewisse Verliebtheit in deine Gedankengebäude besteht.
Sein: Ja, das Denken hat mir über die Jahre auch viel Spannendes präsentiert.
M: Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Es ist nichts Verkehrtes an „Denken an sich“. Aber wenn das, was du denkst, dein Leben bestimmt, dein reines Sein verdunkelt, manipuliert und überschattet, dann sitzt du in einer wahrhaft lebensbedrohenden, wahnhaften Falle. Wenn du davon noch nicht die Faxen dicke hast, dann hört es auch noch nicht auf. Du gibst dich Gott noch nicht ganz zum Geschenk. Bei dem Gedanken an diese Hingabe bekommst du Angst. Wie wäre es, wenn du aufhörst, den Gedanken zu folgen und stattdessen dich dem, was der Gedanke verdeckt, zuwendest, dem, was du damit vermeidest, beispielsweise Unsicherheit. „Zuwenden“ bedeutet, du hörst auf, zu analysieren, zu deuten oder zu interpretieren, die dazu gehörende Geschichte zu erzählen ja, es noch nicht einmal zu erleben, sondern du sitzt einfach mit „unsicher“.
Sein: Aber ich fühle doch die Unsicherheit.
M: Sowie du das als Gefühl wahrnimmst, bist du schon auf dem Weg zur Deutung. Dein Wille muss sein, unsicher zu sein – ohne dir darüber ! Erklärungen zu machen. Das wäre eine neue Erfahrung. Reines Unsichersein.
Sein: Das kann ich mir nicht vorstellen.
M: Das kannst und sollst du dir ja auch nicht vor-stellen. Du sollst dich dem zuwenden, ganz und gar. Das kannst du dir nur nicht vorstellen, weil du es noch nie gemacht hast. Beispiel: Stell dir vor, du knutscht mit einer Frau. In dem Moment, in dem du darüber nachdenkst, knutschst du nicht mehr. Wenn du dich wirklich hingibst, wirst du der Kuss. Du kommst aus dem Kuss wieder raus, wenn der erste Ich-Gedanke auftaucht. Klar?
Sein: Ja.
M: So, und genauso geht das mit der Unsicherheit und mit allem, was da noch übrig ist – Wut, Verzweiflung, Angst, Gier usw. Und der Witz ist: In dem Moment, in dem du das tatsächlich tust, dich ganz und gar zuwenden, dass es schlagartig weg ist, aufgelöst, verschwunden. Und zwar für immer. Du weißt nicht mehr, was das war. Du packst dich an den Kopf und sagst: Das kann doch nicht sein, dass ich das jemals gedacht, geglaubt habe.
Sein: Das ist ja sehr abgefahren.
M: Das ist abgefahren.
Sein: Aber ich habe bestimmte Muster, gegen die ich einfach nicht ankomme.
M: Siehst du, du willst „dagegen“ ankommen. Das bedeutet Krieg, Krieg gegen dich selber. Und warum muss das so bleiben? Wenn du nur an das Ego glaubst, dann musst du deuten und analysieren. Überleg dir, ob du analysieren willst oder untersuchen. Untersuchen heißt: Verfolge den Gedanken bis vor seinen Anfang !!!! und erkenne seine Substanzlosigkeit, erkenne, dass er nichts Persönliches ist.
Sein: Der Unterschied zwischen Leid und Nicht-Leid ist also einfach die Entscheidung, den alten Mustern nicht mehr zu glauben, weil sie letztlich sowieso illusionär sind.
M: Ja, es ist genau wie der Satz: Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.
Es ist eine Entscheidung. Bist du bereit, den Krieg gegen dich selbst aufzugeben? Folgst du dem Ego oder folgst du Gott, ein anderes Wort für Selbst? Mit Gott ist alles total einfach, mit dem Ego kannst du es vergessen.
Sein: Aber ich denke, Erwachen ist Gnade.
M: Es ist Gnade, aber du musst der Gnade den Weg bereiten. Wenn du erkannt hast, dass Analysieren nichts bringt, dann lass es. Wenn du erkannt hast, dass die Gedanken dich kirre machen, dann stoppe sie.
Sein: Be still, wait and see. Heißt: Steig nirgends mehr ein, folge den Gedanken nicht. Das Schwierige ist: Wenn ich mich den Gefühlen – und vor allem der Angst – stelle, dann tauchen dabei auch Gedanken auf.
M: Das geschieht aus Gewohnheit. Und aus Unwissenheit. Und darum brauchst du einen Lehrer. Du brauchst jemanden, der dir in dem Moment sagt: STOP! Nicht denken. Nur das Muster SEHEN, nur wirklich sehen, aber nicht den Inhalt des Musters.
Sein: Dagegen wehrt sich alles in mir, das erscheint dem mind viel zu einfach, zu bedrohlich.
M: Aber der ganze alte Mist muss hochkommen und du musst alles wahrnehmen. Aber ohne in die Story hineinzugehen. Nisargadatta sagt hierzu: Du kannst nur loslassen, was du erkannt hast.
Darum ist ja auch das Enneagramm so hilfreich. Es zeigt dir ganz klar: Da ist das alte Muster wieder – aber: es ist bloß ein Muster. Du musst nicht mehr darauf hereinfallen, auch wenn es dir sagt, dass das etwas ganz Besonderes und Persönliches ist. Und dieses Nicht-Einsteigen ist Disziplin, Wollen, Entscheidung. Das kann jeder. Immer wieder. Und wenn du vergessen hast, achtsam zu sein: Do it again, fang wieder an. Die Versuchungen kommen immer wieder und du musst sie erkennen. Wenn es irgendwo in dir anfängt, sich zu bewegen oder ein Gefühl taucht auf, dann geh ab jetzt nicht mehr gucken, warum, wieso, weshalb. Denn das ist der Beginn der Ich-Sucht.
Sein: Welchen Sinn hat dann überhaupt Therapie, in der man ja genau die persönliche Geschichte in den Mittelpunkt stellt?
M: Dass du dir der Auslöser deiner Sucht bewusst wirst. Gute Therapie kann auch durchaus Linderung verschaffen und hilft dir, bis zu einem gewissen Grade aufzuhören, in dem alten Zeug herumzuwühlen. Eine wirkliche Auf – Lösung, echte Erlösung bewirkt sie nicht. Das kann sie nicht, weil sie „innerhalb“ des Musters versucht zu heilen. Heilen kann aber nur, was über das Ich-Muster hinaus weist. Ich habe lange Jahre als Psycho-Analytikerin gearbeitet, das ist meine Erfahrung. Du kommst nicht darum herum, deinem Ich-Suchtprogramm immer wieder das Stop-Schild zu zeigen.
Berlin, August 2007 © by Joerg Engelsing
© 2001 – 2017 by Maria